Montag, 16. Juni 2014

Todleben

Bei mir wohnt ein Arzt. Links unten in der Ecke.
Wie alle anderen zahlt er dafür 204 im Monat.
Heute morgen, als ich vor der Tür saß und auf die Post wartete,
da tauchte er auf. In seinem schicken BMW fuhr er - zur Arbeit.
Ich halte das für intelligent. Wenn er kein größeres Zimmer braucht,
ist es intelligent, wenig dafür auszugeben.
Klar nimmt er einem armen Studenten ein Zimmer weg.
Aber wir sind hier ja kein Moralgericht. Es ist -
solange er Frauen nur ins Auto und nicht nach Hause nimmt -
sehr intelligent von ihm.

K lag heute Nacht neben mir. Ich in seinem Arm.
Er sagt, dass er noch 6 Euro habe. 6, davon sind 3 für ein Theaterstückt,
weil er es sich leisten möchte und 3 zum leben, bis er irgendwie Geld verdient.
In etwas über 20 Tagen wird die Miete abgebucht, 204. Spätestens dann
beginnen die Probleme, sagt er.
Dann sagt er, wenn er in 3 Wochen keinen Job habe, bringt er sich um.
Ich liege da neben ihm und frage mich, ob mich das zu irgendwas verpflichtet.
Ja: ich glaube ihm. 15 Jahre Depressionen und suizidale Gedanken in einer ausweglosen Situation. Denn nüchtern betrachtet kommt er da wirklich nicht mehr raus. Es ist einfach so.
Natürlich ist er selbst Schuld. Er ist eben nicht intelligent.

Leider hilft Schuld nicht und von Einsicht kann man sich nichts kaufen.
Also: muss ich ihm helfen? Wenn ich Geld habe, das aber selber zum leben brauche?
Oder: ihn einweisen? Denn aus psychatrischer Sicht ist er ein Fall für die Geschlossene.

Wie er dann feststellte,
kann er seinem Studium und dem Zimmer dann aus der Psychatrie zusehen wie sie abtauchen.
Und wenn er raus ist, muss er noch die Klinik zahlen. Die ihm schon einmal nicht geholfen hat.
Weder mit den Depressionen, noch mit dem Suizid oder den Drogen.
Es ist eine Lebensspirale, die schief läuft, schon zu lange um sie aufzuhalten.
Zumindest mit dem, was wir haben, er und/oder ich.
Solche Menschen müssen an die Hand genommen werden. Immer und immer wieder.
Wie kleine Kinder. Sonst gehen sie einfach unter, früher oder später.

Er lag also neben mir, mich an sich gedrückt als könnte ich ihn retten.
Das kann ich nicht. Nur die Illusion, die kann ich ihm geben
und Ablenkung bevor es schlimm wird.

Ich glaube, in so etwas gibt es keine richtige Antwort.
Vielleicht für alle, die es sich einfach machen,
die Leben um jeden Preis erhalten und Tod nur sehen, wenn kein Herz mehr schlägt.
Wie alle Menschen stirbt er jeden Tag ein Stück,
jedes Haar, jede Zelle ein kleiner Tod.
Nur er schleicht nicht, er rast. Er bröckelt und fällt
und hält und flickt und stopft und es bringt nichts.
Was er zusammenkriegt in der einen Hand, ist bereits brüchig in der anderen.

Bin ich jetzt verantwortlich?
Und wenn er in 3 Wochen einfach verschwindet, wie die Zellen, die er in meinem Bett verteilt hat, sich auflöst und einfach aufhört da zu sein,
ist es dann falsch, wenn ich mich für ihn freue?
Ich glaube, dann hat er auf einmal einen großen Schritt gemacht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen